Systemtheorie

Die insbesondere von Luhmann entwickelte Systemtheorie versteht sich als eine funktionell-strukturelle Theorie umweltoffener sozialer Systeme. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen; die Funktion aller Systeme ist die Reduktion von Komplexität, um dem Menschen dadurch eine gewisse Erlebnis- und Verhaltenssicherheit zu ermöglichen. Systeme erfüllen die Funktion, das doppelte Problem der Komplexität und der Kontingenz zu bewältigen. Soziale Systeme stabilisieren objektive, gültige Erwartungen, nach denen man sich richtet.
Recht ist nach Luhmanns Definition ein soziales System, das auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht. Nach Luhmann ist eine traditionelle oder naturrechtliche Begründung des Rechts nicht mehr möglich, weil sie die Vorstellung einer unabänderlichen ewigen Geltung voraussetzt, welche die Bedürfnisse nach fortwährender Anpassung des Rechts an die sozialen Veränderungen nicht mehr befriedigen kann. Nur ein positiviertes Recht ermöglicht die strukturelle Variabilität. Positives Recht sei gekennzeichnet durch seine Gesetztheit; inhaltlich sei es kontingent. Seine Änderung sei jederzeit möglich und in institutionalisierten Verfahren von vornherein vorgesehen.
„Noch heute fällt es den Juristen schwer, die reine Positivität des Rechts, und den Ideologen schwer, die Umwertbarkeit auch ihrer Werte zuzugestehen. Inuner wieder werden größte Anstrengungen unternommen, um den vermeintlichen Konsequenzen reiner Beliebigkeit zu entgehen durch Berufung auf einen Restbestand an invarianten Grundlagen, auf wenigstens einige absolute Werte oder auf ein ethisch-naturrechtliches Minimum an Normen. ... Solche Rückgriffe auf vorreflexive Ordnungsvorstellungen (sind jedoch) fragwürdig. Die Sicherheit, die sie verheißen, wird zunehmend illusionär. ... Es mag sein, dass sich auch in unserer Gesellschaft gewisse Prinzipien der Moral „herausabstrahieren und als invariant und unantastbar institutionalisieren lassen. Aber so festgestellte Grundsätze enthalten dann keine ausreichenden Ordnungsgarantien mehr” (Das Recht der Gesellschaft, 203 ff., 235).
Die offene Änderbarkeit macht das Recht variabel für neue Situationen. Die Funktion des Rechts erschöpft sich nicht mehr in der Erhaltung vorgegebener Interaktionsmuster (z. B. Ehe) und in der Konfliktregelung, sondern das Recht wird zum Träger gesellschaftlicher Entwicklung, zum Instrument planmäßiger Sozialgestaltung. Der Zeitbezug des Rechts liegt weder nur in der Dauer der Geltung der Normen noch in der immanenten Geschichtlichkeit des Rechts, sondern vor allem darin, dass man versucht, sich wenigstens auf der Ebene der Erwartungen auf eine noch unbekannte, genuin unsichere Zukunft einzustellen. Rechtsgeltung dient als zirkulierendes Symbol, mit dem das Rechtssystem den momentanen eigenen Zustand markiert. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, erfüllt Recht seine Funktion dann besonders, wenn es auf eine höhere Komplexität und Unwahrscheinlichkeit der Lebensverhältnisse vorbereitet. Rechtssicherheit besteht in der Sicherheit, dass Angelegenheiten, wenn das gewünscht wird, allein nach dem Rechtscode behandelt werden und nicht etwa nach einem Machtcode oder nach irgendwelchen vom Recht nicht erfassten Interessen.
Luhmann trennt Recht und Moral. Den negativen Konsequenzen der gewollten Beliebigkeit von Rechtsänderungen wird durch besondere Schutzvorkehrungen begegnet. Dazu gehört der Begriff des Rechtsstaates, die Erfindung höherrangigen Rechts, das System der subjektiven Rechte, die Beschränkungen der rechtlichen Handlungs- und Vertragsfreiheit. Auch die im System der Demokratie und im weitgehend autonomen Wirtschaftsprozess angelegten Gegengewichte entfalten sich in gleicher Weise. Das komplexe Gebilde der Gesellschaft mit seinen vielfach differenzierten Untersystemen hält sich selbst im Gleichgewicht. Die Gültigkeit der Rechtsnormen wird nicht durch ihren Inhalt legitimiert, sondern durch das Verfahren (z.13. Gesetzgebungsverfahren, Gerichtsverfahren). Im Zusammenspiel der Verfahren
entsteht die allgemeine Erwartung, dass die durch eine Entscheidung Enttäuschten ihren Protest aufgeben und sich anpassen.
Luhmann verwirft die Interpretation der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat. Das politische Teilsystem „Staat”, das die für die Ordnung der Gesellschaft notwendigen Entscheidungen verbindlich zu fällen habe, tendiere dazu, seine eigenen Grenzen zu überschreiten, in andere Teilsysteme einzudringen und so die gesellschaftliche Differenzierung infrage zu stellen. Dieser Gefahr entgegenzuwirken, sei die Aufgabe der Grundrechte die Grundrechte als Institution.
Der moderne Rechtsstaat sei voller Spannungen. Nach Luhmann wird immer deutlicher, dass man zwar jedes Gesetz befolgen könne, aber nicht alle. Rechtsbrüche würden lebensnotwendig, wenn Leben heißen solle: nach Maßgabe individueller Selbstbestimmung zu leben. Bereiche wie Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit seien Indikatoren dafür, dass Rechtsverstöße unvermeidlich seien. Erhebliche Bereiche der Wirtschaft würden zusammenbrechen, wenn das Recht hier durchgesetzt würde. Vor allem aber würden zahlreiche Möglichkeiten individueller Selbstsinngebung abgeschnitten, wenn die Bürokratie das Recht in allen Bereichen durchsetzen könnte.




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