Sozialstaatlichkeit

der Bundesrepublik Deutschland lässt sich
- im Unterschied zu anderen staatsgestaltenden Verfassungsentscheidungen, die einen festen Begriffskern haben (z.B. Rechtsstaat, Demokratie, Bundesstaat) - rechtlich nicht so leicht definieren. Das Wort .sozial" ist ein unbestimmtes Novum im Verfassungstext (Art. 20 I und 28 I). Erschwert wird die juristische Erfassung der neuen Staats- zielbestimmung dadurch, dass die ideengeschichtlichen Grundlagen hier alles andere als homogen sind. In den einschlägigen Strömungen des 19. Jahrhunderts waren so unterschiedliche Einflüsse wirksam wie etwa die katholische Soziallehre, marxistische Ideologien, genossenschaftliche Konzepte und Brüderlichkeitspostulate im Zuge der Französischen Revolution, die ja ausser Freiheit und Gleichheit auch .fraternité" verhiess. Dieser ganz uneinheitliche historische Hintergrund hat, je nach dem Vorverständnis der Interpreten, zu den verschiedensten Deutungen der Sozialstaatsklausel des GG geführt. Die Ergebnisse variieren dabei von der Annahme eines blossen Programmsatzes oder auch nur einer Auslegungsmaxime bis hin zur Feststellung eines Verfassungsauftrags oder gar einer Rechtsgrundlage für individuelle einklagbare Ansprüche.
Die grundgesetzliche Sozialstaatsklausel ist eine ausfüllungsbedürftige Lapidarformel im Verfassungstext. Um sie näher zu bestimmen, kann nicht auf internationale Regelungen wie etwa auf die Europäische Sozialcharta zurückgegriffen werden. Vielmehr ist die Verfassung auch hier aus ihrem eigenen objektiven Geist, ihrem Zweck und dem Entstehungszusammenhang auszulegen. Die Materialien zum GG enthalten keinerlei Hinweise, was mit dem Adjektiv gemeint war. Weder die Herrenchiemseer Beratungen noch die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates lassen irgendwelche Rückschlüsse zu. Soweit das Wort ,sozial" in den verschiedenen Textentwürfen vorkommt, wurde sein Sinngehalt offenbar nicht diskutiert. Womöglich war die Einfügung des Sozialen seinerzeit eine Art von dilatorischem Formelkompromiss: Mittels eines mehrdeutigen Wortes blieb so die eigentliche Frage offen und einer späteren Entscheidung anheimgestellt.
Die nachfolgende Verfassungsentwicklung erfordert es jedoch, die vage Wendung .sozial" näher zu substantieren. Dabei wird die juristische Bestimmung erschwert durch die sprachliche Unbestimmtheit dieses Beiworts, seinen ständigen Gebrauch als tagespolitisches Schlagwort und als utopische Hoffnungsvokabel. Weil der vom GG verfasste Staat,sozial" sein soll, darf er sich jedenfalls weder antisozial noch unsozial noch auch nur sozial-neutral verhalten. Aus jenem sozialen Verfassungsgebot folgt vielmehr, dass dieser Staat in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung die legitimen Lebensnotwendigkeiten und Vorsorgebedürfnisse seiner Menschen zu berücksichtigen hat. Eine Verletzung dieser Pflichten wäre übrigens auch unvereinbar mit der modernen Deutung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Die Idee einer vollkommenen staatsfreien Selbststeuerung der Gesellschaft wurde von den sozialgeschichtlichen Erfahrungen als praktisch unbrauchbar widerlegt. Und das entgegengesetzte Extrem, die totalitäre Ausübung der Staatsgewalt nach sozialistischen Mustern, ist mit dem Verfassungsprinzip menschlicher Würde und Freiheit fundamental unvereinbar. Wenn also der Staat für die Gesellschaft weder ganz entbehrlich noch zu unbeschränkter Herrschaft über sie legitimiert ist, stellt sich die Frage nach einer grundgesetzkonformen Bestimmung seiner sozialen Aufgaben unter den Bedingungen der heutigen Lebenswelt.
Die soziale Funktion des Staates muss im Dienste des Menschen, seiner Würde und seiner Freiheit stehen. Auszugehen ist von dem zu freier Persönlichkeitsentfaltung berufenen Individuum. Dieses aber befindet sich in der geschichtlich neuartigen Situation des naturwissenschaftlich-technisch weit fortgeschrittenen und gleichzeitig existentiell hilfsbedürftig gewordenen Menschen. Das so gefährdete Wesen lebt in einer Gesellschaft, die nach präzedenzlos verwüstenden Weltkriegen und industriell-sozialen Umwälzungen einen unabweisbaren Bedarf an Daseinssicherung und Entwicklungsvorsorge hat. Da im allgemeinen weder der Einzelne noch die vermachtete Grup- pengesellschaft zur Selbstregulierung der neuen Existenzprobleme imstande sind, kann es nur der Staat sein, der ordnend und helfend hier in Aktion tritt. So wird er zu einer verfassungsmässigen Korrekturinstanz der Eigendynamik gesellschaftlich-wirtschaftlicher Geschehensabläufe. Die vom Grundgesetz verfasste Republik ist nach allem kein sozial-ethisch neutrales Gemeinwesen oder ein blosser Machtverband, vielmehr eine Institution, die dem Menschen notfalls zu Hilfe kommt, damit er sich individuell und sozial verwirklichen kann. Indessen mag es auch ein Zuviel an Sozialstaatlichkeit geben. So wenn Wucherungen in Richtung Wohlfahrtsstaat - im Widerspruch zum grundgesetzlichen Menschenbild der eigenverantwortlichen Persönlichkeit - die Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen zu einer Art kostenloser Massendroge verkommen lassen. Im Blick auf das Sozialstaatsprinzip soll nicht zuletzt das Ubermassverbot verhindern, dass die freiheitliche Existenz des Menschen untergeht im egalitären Gesamtkollektiv.




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