Irrtumslehre

, Strafrecht: Systematisierung und Rechtsfolgenbestimmung der zahlreichen Fälle, in denen die Vorstellung eines an einer Straftat Beteiligten von der Wirklichkeit abweicht. Zu unterscheiden sind:
— irrige Annahme von etwas objektiv nicht Vorhandenem;
— Unkenntnis von etwas objektiv Vorhandenem.
Zum Teil wird der Begriff „Irrtum” in der Strafrechtsliteratur auch nur für die Unkenntnis verwendet und die Fälle der Trugen Annahme werden als „umgekehrter Irrtum” bezeichnet.
Quelle der Fehlvorstellung kann eine Verkennung der Tatsachenlage sein. Man spricht dann von Tatsachenirrtum. Möglich ist auch, dass der Beteiligte den Inhalt von Rechtsvorschriften nicht oder falsch versteht. Man spricht dann von einem Rechtsirrtum. Irrtümer sind im Strafrecht nur lückenhaft geregelt,
§§ 16,17, 22, 23, 35 Abs. 2, 113 Abs. 4 StGB. Es handelt sich vorwiegend um Richterrecht, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Fehlvorstellungen sind auf jeder Ebene des Deliktsaufbaus möglich: 1) Häufigster Bezugspunkt des strafrechtlichen Irrtums sind Tatbestandsmerkmale.
a) Kennt der Beteiligte einen Tatumstand nicht, der ein Tatbestandsmerkmal ausfüllt, so fehlt ihm der Tatvorsatz, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.
Sofern ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand existiert und der Beteiligte den Irrtum hätte vermeiden können, bleibt die Möglichkeit einer Bestrafung aus Fahrlässigkeitstat, §§ 16 Abs. 1 S. 2, 15 StGB.
— „Tatumstand” ist nicht dasselbe wie „Tatbestandsmerkmal”, weil sonst vorsätzliche Straftaten nur von juristisch gebildeten Personen begangen werden könnten. Zu den Tatumständen gehören zuallererst alle das jeweilige Tatbestandsmerkmal ausfüllenden Tatsachen. Bei sog. deskriptiven Tatbestandsmerkmalen (Tatbestand) beschränkt sich der Begriff „Tatumstand” praktisch auf die dem Merkmal zugrunde liegenden Tatsachen, sodass hierbei praktisch nur ein Tatsachenirrtum zu einem Tatbestandsirrtum führt. Bei den sog. normativen Tatbestandsmerkmalen gehört zu den Tatumständen außer der Tatsachenkenntnis noch eine vereinfachte, rechtlich zutreffende Vorstellung, die sog. Parallelwertung in der Laiensphäre. Dafür reicht es aus, dass der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsinhalt des fraglichen Merkmals rudimentär richtig erfasst hat. Ein Rechtsirrtum kann die richtige Parallelwertung ausschließen und damit auch einen Tatbestandsirrtum herbeiführen.
— Wenn die Unkenntnis, ein Tatbestandsmerkmal zu verwirklichen, nicht auf der Verkennung der Tatsachenlage oder der fehlerhaften Parallelwertung in der Laiensphäre beruht, ist sie für den Vorsatz irrelevant. In solchen Fällen spricht man von „Subsumtionsirrtum”; d. h., dass der Täter trotz seiner Fehlvorstellung mit Vorsatz gehandelt hat. Hielt er sein Verhalten aufgrund dessen sogar für rechtskonform, lag ein Verbotsirrtum vor.
Uneinheitlich ist die Behandlung von Rechtsirrtümern über Normen außerhalb des Strafrechts, auf die der jeweilige Straftatbestand verweist (z.B. die §§ 929 ff. BGB beim Merkmal „fremd” in den Eigentumsdelikten). Zum Teil werden sie als Tatbestandsirrtümer mit vorsatzausschließender Wirkung angesehen, zum Teil werden sie als Subsumtionsirrtümer für vorsatzirrelevant gehalten.
b) Bei der irrigen Annahme eines Tatbestandsmerkmals geht es um die Frage, ob damit der Tatentschluss für einen strafbaren untauglichen Versuch oder lediglich die Vorstellung für ein strafloses
* Wahndelikt begründet ist. Gesetzliche Regeln existieren nicht. Die h. M. kehrt die Abgrenzung zwischen Tatbestandsirrtum und Subsumtionsirrtum um. Das Vorstellungsbild, das im Falle seines Fehlens den Vorsatz ausschließt, begründet im Falle irriger Annahme
den Vorsatz und damit den Tatentschluss zum untauglichen Versuch. Konsequenzen:
* Betrifft die Fehlannahme einen Tatumstand, also bei
deskriptiven Tatbestandsmerkmalen eine bestimmte Tatsache oder bei normativen Tatbestandsmerkmalen auch eine rechtliche Parallelwertung, bei deren tatsächlichem Vorliegen das Merkmal erfüllt wäre, so ist Tatentschluss für einen untauglichen Versuch gegeben.
* Hält jemand sein Verhalten bei Kenntnis des wahren Sachverhalts für strafbar, weil er in einem Rechtsirrtum verfangen ist, der dazu führt, dass der Normbereich eines Strafgesetzes überdehnt wird, so liegt ein strafloses Wahndelikt vor.
2) Bei einem Irrtum über den Kausalverlauf geht es uni die Vorsatzzurechnung einer Kausalabweichung, also der Divergenz des tatsächlichen vom vorgestellten naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg einer Straftat. Der Kausalverlauf ist bei den Erfolgsdelikten ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, auf das sich der Vorsatz des Täters im Zeitpunkt der Tathandlung erstrecken muss. Da die Tätervorstellung eine Prognose über den zukünftigen Tatablauf beinhaltet und niemand die Komplexität von naturgesetzlichen Zusammenhängen überschauen kann, muss der Täter den Kausalverlauf nur „in seinen wesentlichen Zügen” erfasst haben. Ein nach § 16 Abs. 1 S.1 StGB vorsatzausschließender Irrtum über den Kausalverlauf liegt nur dann vor, wenn der tatsächlich eingetretene Kausalverlauf wesentlich von dem vorgestellten Kausal-verlauf abweicht. Unwesentliche Abweichungen lassen das „Kausalwissen” und damit den Vorsatz unberührt. Nach h. M. sind Abweichungen zwischen dem vorgestellten und dem tatsächlichen Kausalverlauf dann unwesentlich, wenn sie sich noch in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen. Eine Erscheinungsform der wesentlichen Kausalabweichung ist die sog. aberratio ictus.
3) Irrtümer über Umstände der objektiven Zurechnung sind als selbstständige Fallgruppe noch wenig erforscht. Sofern man für jedes Erfolgsdelikt zusätzlich zur Kausalität einen tatbestandsbezogenen Risikozusammenhang verlangt (h. Lit.), hat dieser die Qualität eines normativen Tatbestandsmerkmals. Die Unkenntnis der objektiven Zurechnung und die irrige Annahme der objektiven Zurechnung folgen dann den allgemeinen Regeln zum Tatumstandsirrtum (s. oben).
4) Auch auf die besonderen Tatbestandsmerkmale der unechten Unterlassungsdelikte (Unterlassen, Möglichkeit der Erfolgsabwendung, Garantenstellung, Zumutbarkeit) muss sich der Vorsatz des Täters beziehen. a) Bei Unkenntnis gelten folgende Regeln:
* Kennt der Täter im relevanten Zeitraum schon nicht die Tatsachen, die sein Verhalten zum tatbestandsmäßigen Unterlassen machen - etwa weil er nicht weiß, dass das von ihm zu beschützende Rechtsgut in Gefahr ist oder weil er die ihm objektiv gegebenen Möglichkeiten zum Handeln nicht
wahrgenommen hat -, so fehlt ihm gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB der Tatvorsatz.
Sofern ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand existiert
und der Täter den Irrtum hätte vermeiden können, bleibt die Möglichkeit einer Bestrafung aus Fahrlässigkeitstat, §§ 16 Abs. 1 S. 2, 15 StGB.
* Glaubt der Täter bei zutreffendem Tatsachenwissen, nicht handlungspflichtig zu sein, irrt er sich also nicht über die Garantenstellung selbst, sondern über die aus ihr entstehende Garantenpflicht, so liegt ein Subsumtionsirrtum vor, der den Vorsatz unberührt lässt.
Da dem Täter jedoch das Bewusstsein fehlte, Unrecht zu tun, liegt ein sog. Gebotsirrtum vor, der genauso behandelt wird wie ein Verbotsirrtum.
b) Bei irriger Annahme gilt:
Nimmt der Täter irrtümlich einen Sachverhalt an, bei dessen Vorliegen sich tatsächlich ein tatbestandsmäßiges Unterlassen mit Garantenstellung ergeben würde, so liegt ein umgekehrter Tatbestandsirrtum vor, der zum untauglichen Versuch führt. Dieser ist auch beim unechten Unterlassungsdelikt strafbar.
Glaubt der Täter dagegen trotz richtiger Sachverhaltskenntnis nur aufgrund einer falschen rechtlichen Wertung an das Bestehen einer Garantenpflicht, liegt ein umgekehrter Subsumtionsirrtum vor, der als Wahndelikt straflos ist.
5) Auch die Eigenschaft, tauglicher Täter eines Sonderdelikts zu sein, ist vorsatzbedürftiges normatives Tatbestandsmerkmal.
a) Daraus folgt bei Unkenntnis:
* Kennt der Täter schon die Umstände nicht, die ihn zum speziellen Normadressaten machen - z.B. zum Unfallbeteiligten gemäß § 142 StGB - fehlt ihm der Tatvorsatz, § 16 Abs. 1 S. 1.
Sofern ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand existiert und der Täter den Irrtum hätte vermeiden können, bleibt die Möglichkeit einer Bestrafung aus Fahrlässigkeitstat, §§16 Abs. 1 S. 2, 15 StGB.
* Kennt der Täter den objektiven Sachverhalt und hat er eine ungefähre rechtliche Vorstellung über die besondere Pflichtenstellung, irrt aber darüber, selbst davon erfasst zu sein, so liegt ein für den Vorsatz unbeachtlicher Subsumtionsirrtum vor. Dieser ist zugleich Verbotsirrtum und wird nach § 17 StGB behandelt.
b) Die irrige Annahme über die Verbindlichkeit einer Norm wurde früher ebenso wie die irrige Annahme der Existenz einer Strafnorm als Wahndelikt behandelt. Die heute h. M. lehnt eine besondere Behandlung des Irrtums über die Subjektqualität ab. Konsequenzen:
* Nimmt der Täter irrig tatsächliche oder rechtliche Unistände an, bei deren Vorliegen er die für den jeweiligen Tatbestand erforderliche Täterqualität hätte, liegt also ein umgekehrter Tatbestandsirrtum vor, so ist Tatentschluss für einen untauglichen Versuch gegeben.
Beispiel: Versuchte Bestechlichkeit durch den in der Behörde Tätigen, der sich Geld für eine in seinen Pflichtenkreis fallende rechtswidrige Handlung geben lässt, ohne zu wissen, dass seine Ernennung zum Beamten nichtig ist.
* Zieht dagegen jemand in Kenntnis aller tatbestandserheblichen Umstände und ihrer sozialen Bedeutung nur den falschen rechtlichen Schluss, er gehöre zu dem im Gesetz genannten Täterkreis, liegt also ein „umgekehrter Subsumtionsirrtum” vor, so ist ein strafloses Wahndelikt anzunehmen.
Beispiel: Straflosigkeit des korrupten Architekten wegen versuchter Bestechlichkeit (§ 332 Abs. 1 StGB), der glaubt, wegen eines einmaligen Auftrages der Gemeinde zum Amtsträger geworden zu sein.
6) Die Fehlvorstellung bezieht sich häufig auch auf strafschärfende Tatbestandsmerkmale.
a) Bei Unkenntnis einer objektiv verwirklichten Strafschärfung gilt:
* Bezieht sich die Fehlvorstellung auf einen Tatumstand i. S. v. § 16 Abs. 1 S.1 StGB, so kann mangels Vorsatzes nicht aus dem qualifizierten Tatbestand bestraft werden.
* Lässt der Irrtum des Täters den Vorsatz hinsichtlich des Grunddelikts unberührt, so bleibt er hieraus strafbar.
b) Bei irriger Annahme eines objektiv nicht verwirklichten qualifizierenden Tatumstandes gilt:
Bezieht sich die Fehlvorstellung auf Tatumstände i. S. v. § 16 Abs. 1 S.1 StGB, so liegt hinsichtlich der gewollten Strafschärfung in der Regel Versuch der Qualifikation vor.
Hat der Täter durch seine Handlung das Grunddelikt sogar vollendet, so steht dieses zu dem Versuch der Qualifikation in Tateinheit,§ 52 StGB.
7) Fehlvorstellungen des Täters über strafmildernde Tatumstände werden folgendermaßen behandelt: a) Bei Unkenntnis eines objektiv verwirklichten Privilegierungsmerkmals wird differenziert:
* Sofern das Merkmal nur objektive Umstände beschreibt, die in keinem Zusammenhang zur Psyche des Täters stehen, greift die Privilegierung trotz Unkenntnis des Täters ein. Das versuchte Grunddelikt steht in Tatmehrheit dazu (str.).
Beispiel: Der Beamte B weiß nicht, dass die von ihm bewusst überhöht eingezogene Vergütung eine „Gebühr” i. S. d. § 352 StGB ist. Er glaubt deshalb, einen Betrug gern. § 263 StGB zu begehen. B ist strafbar aus Gebührenüberhöhung in Tateinheit mit versuchtem Betrug.
* Sofern das Merkmal einen Privilegierungsumstand beschreibt, der auf einer psychischen Ausnahmesituation beruht, kommt es dem Täter überhaupt nicht zugute.
Beispiel: Der sich seiner Festnahme widersetzende Kaufhausdieb weiß nicht, dass er einen Polizeibeamten in Zivil vor sich hat. Der Privilegierungstatbestand des § 113 StGB greift wegen Unkenntnis des Täters von der Amtsträgerschaft seines Opfers nicht ein. Gegeben ist versuchte Nötigung gem. §§ 240, 22 StGB.
* Bei irriger Annahme privilegierender Tatumstände wird der Täter gemäß § 16 Abs. 2 StGB nur aus dem irrig angenommenen milderen Tatbestand bestraft.
Beispiel: Der Tötungstäter glaubt irrtümlich an das Vorliegen eines ausdrücklichen und ernsthaften Sterbeverlangens seines Opfers. Strafbarkeit aus § 216 StGB i. V. m. § 16 Abs. 2.
8) Beim Irrtum über Rechtfertigungsgründe unterliegt der Täter einer Fehlvorstellung über das Eingreifen von Erlaubnissätzen.
a) In Unkenntnis verwirklicht der Täter einen Unrechtstatbestand, ohne zu wissen, dass für sein Handeln objektiv ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Es fehlt damit das nach ganz h. M. erforderliche subjektive Rechtfertigungselement. Die Rechtsfolge ist umstritten. Nach traditioneller Rspr. und Lehre müssen objektive und subjektive Rechtfertigungselemente kumulativ erfüllt sein, damit die Rechtfertigung eingreift. Fehlt das subjektive Rechtfertigungselement, so ist die Tat rechtswidrig. Bei schuldhafter Begehung haftet der Täter aus Vollendungstat. Möglich ist dann allenfalls eine Strafmilderung. Nach überwiegender Auffassung im Schrifttum ist zur Lösung des Problems auf die Differenzierung von Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht zurückzugreifen.
— Bei der Vorsatztat gilt danach Folgendes: Erst eine vollendete und rechtswidrige Vorsatztat verwirklicht das für die Bestrafung notwendige Handlungsunrecht (Auflehnung des Täters gegen die Rechtsordnung) und Erfolgsunrecht (Widerspruch des Deliktserfolges mit der Rechtsordnung). Um beides strafrechtlich zu „neutralisieren”, bedarf es sowohl einer objektiven Rechtfertigung (= Beseitigung des Erfolgsunrechts) als auch des jeweiligen subjektiven Rechtfertigungselements (= Beseitigung des Handlungsunrechts). Handelt der Täter nur objektiv gerechtfertigt, so verbleibt der Handlungsunwert. Dies entspricht der Situation des Versuchs, denn juristisch wird der eingetretene Erfolg dem Täter nicht angelastet. Von untergeordneter Bedeutung ist dann, ob man die §§ 22 ff. StGB direkt oder nur analog heranzieht. Jedenfalls entfällt die Strafbarkeit, wenn der Versuch nicht unter Strafe gestellt ist.
Allerdings kommt auch diese Ansicht zur Tatvollendung, wenn dem Täter bei bestimmten Rechtfertigungsgründen die dort geforderte Absicht fehlt. So ist aus § 239 StGB strafbar, wer jemanden wegen dessen Straftat zwar festnimmt (§ 127 Abs. 1 S.1 StPO), aber gar nicht die Absicht hat, ihn der Polizei zu überstellen, sondern ihn selbst bestrafen will.
— Auch bei fahrlässigen Erfolgsdelikten — insbesondere solchen mit unbewusster Sorgfaltswidrigkeit — kann es vorkommen, dass der herbeigeführte Erfolg objektiv gerechtfertigt war, ohne dass der Täter dies ahnte. Hier wird der Erfolgsunwert der Tat durch die objektive Rechtfertigung kompensiert und der Täter rechtlich so gestellt, als sei sein Sorgfaltsverstoß folgenlos geblieben. Da es keinen Versuch der Fahrlässigkeitstat gibt, bleibt der Täter straflos.
b) Bei irriger Annahme unterscheidet die heute herrschende eingeschränkte Schuldtheorie nach der Art des Irrtums:
— Bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum wird der Täter nicht wegen Vorsatztat bestraft.
Beruht der Irrtum auf Fahrlässigkeit, so wird der Täter über § 16 Abs. 1 S. 2 StGB aus Fahrlässigkeitsdelikt bestraft, sofern die fahrlässige Begehung der jeweiligen Tat mit Strafe bedroht ist.
— Ein Erlaubnisirrtum wird dagegen wie ein Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB behandelt, d. h., bei
Vermeidbarkeit des Irrtums verbleibt es trotz des Irrtums bei der Strafbarkeit aus Vorsatztat und die Strafe des Täters kann gemildert werden. Nur bei Unvermeidbarkeit des Irrtums entfällt die Strafbarkeit aus dem im Irrtum begangenen Delikt.
9) Bei einem Irrtum über Entschuldigungsgründe geht es um die Folgen der Fehlannahme, dass Schuldausschließungsgründe für die eigene Straftat eingriffen.
a) Bei Unkenntnis der objektiv vorliegenden Entschuldigung glaubt der Täter, sich strafbar gemacht zu haben. Hierbei ist zu unterscheiden:
— Beruht der Irrtum darauf, dass der Täter die entschuldigende Tatsachenlage nicht kennt — Parallele zum fehlenden subjektiven Rechtfertigungselement —, so fehlt ihm die für den Entschuldigungsgrund entscheidende psychische Zwangslage. Er handelt dann nach allgemeiner Ansicht schuldhaft.
— Verengt der Täter bei Kenntnis der Tatsachenlage und bei vorhandenem Rettungswillen den Entschuldigungsgrund nur rechtsirrig, ist die Tat wegen der tatsächlich empfundenen Zwangslage gleichwohl entschuldigt.
b) Bei irriger Annahme eines objektiv nicht eingreifenden Entschuldigungsgrundes gilt Folgendes:
— Die irrige Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes, sog. Entschuldigungstatbestandsirrtum ist in § 35 Abs. 2 StGB geregelt: Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach § 35 StGB entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe muss (anders als in § 17 S. 2 StGB) nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. Die Regelung des § 35 Abs. 2 StGB gilt entsprechend für andere Entschuldigungsgründe, insbesondere für den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand und die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens beim Unterlassungsdelikt (sofern man Letztere nicht schon auf Tatbestandsebene prüft, str.). Besonderheiten gelten aber für den sog. Putativnotwehrexzess.
— Bedeutungslos für den Schuldspruch ist der Irrtum über das Bestehen oder die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes, da nur der Gesetzgeber zu entscheiden hat, in welchen Fällen von der Erhebung eines Schuldvorwurfes abzusehen ist. Die Fehlvorstellung kann allenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.
10) Nach der Rspr. und einem Teil der Literatur wird dem Täter ein Irrtum, der sich auf einen persönlichen Strafausschließungsgrund bezieht, nach keiner Richtung zugerechnet. Die Umstände, die persönliche Strafausschließungsgründe begründeten, seien solche, die außerhalb von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld stünden. Weder das Vorliegen noch das Nichtvorliegen solcher Umstände könne also die Schuld des Täters berühren. Ein Irrtum darüber müsse unbeachtlich sein, es entscheide
darüber die objektive Lage. Eine Gegenmeinung sieht in den persönlichen Strafausschließungsgründen „Privilegierungen zur Straflosigkeit”, die ähnlich wie die privilegierenden Umstände in § 16 Abs. 2 StGB durch die Motivationslage des Täters ausgelöst seien. Für ihr Eingreifen komme es daher analog § 16 Abs. 2 StGB nur auf die Tätersicht an.
11) Innerhalb der Strafzumessungsregeln gibt es
häufig Fehlvorstellungen bei Regelbeispielen, also
um Fehlvorstellungen über Umstände, die einen als besonders schweren Fall benannten Strafzumessungsgesichtspunkt auslösen können.
a) Bei Unkenntnis eines objektiv verwirklichten Regelbeispiels gilt: Tatbestandsirrtum in direkter Anwendung des § 16 Abs. 1 S.1 StGB gibt es hier nicht, weil die Regelmerkmale keine Tatbestandsmerkmale sind. Nach allgemeiner Ansicht gilt aber § 16 StGB analog, weil die Verlagerung der Entscheidung über die Voraussetzungen erhöhter Strafbarkeit in Regelbeispielen oder sonstigen unbenannten Strafschärfungsgründen nicht zu einer Herabsetzung der Erfordernisse subjektiver Zurechnung führen darf. Ein vorsatzgleiches Bewusstsein muss sich daher auf die das jeweilige Regelbeispiel ausfüllenden Umstände oder auf die sonstigen Umstände, in denen der Richter einen „besonders schweren Fall” erblickt, erstrecken. Folglich kann derjenige, der einen objektiv verwirklichten Straferschwerungsgrund nicht kennt, hieraus nicht bestraft werden.
Kein Diebstahl im besonders schweren Fall, wenn der Täter eine Sache wegnimmt, ohne zu wissen, dass sie durch eine Alarmanlage besonders gegen Wegnahme gesichert ist.
Irrige Annahme von Umständen, die ein Regelbeispiel ausfüllen: Eine selbstständige Versuchsstrafbarkeit gibt es hier nicht, weil das Delikt des Versuchs
sich immer nur auf Tatbestände beziehen kann. Umstritten ist aber, ob die „Regelwirkung”, also der erhöhte Strafrahmen ausgelöst sein kann, wenn der Täter, der ein Grunddelikt versucht hat, zusätzlich die Merkmale des Regelbeispiels erfüllen wollte, dies aber nicht realisiert hat.
Beispiel: Der Täter versucht ein Lager aufzubrechen, das leer ist. Er schafft es jedoch nicht einmal, die Tür aufzubekommen. Versuchter Diebstahl ist gegeben. Fraglich ist, ob die Tat auch aus dem erhöhten Strafrahmen des § 243 Abs. 1 S.2 Nr.1 StGB bestraft werden kann, obwohl der Täter nicht in den Geschäftsraum eingebrochen” ist.
Im Schrifttum wird das überwiegend verneint. Soweit das jeweilige Regelbeispiel nach seinem Wortlaut an die Erfüllung sowohl objektiver als auch subjektiver Voraussetzungen geknüpft sei, könne der erhöhte Strafrahmen für besonders schwere Fälle nicht ohne weiteres schon bei Teilverwirklichung Anwendung finden. Die Versuchsregeln stünden hierfür nicht zur Verfügung, da sie ausdrücklich nur auf Tatbestände bezogen seien und ihre Übertragung auf Strafzumessungsregeln dem Analogieverbot zuwiderliefe. Möglich wäre allenfalls die Annahme eines unbenannten schweren Falles nach Gesamtabwägung aller Umstände — im vorgenannten Beispiel: § 243 Abs. 1 S.1 StGB. Die Rspr. behandelt demgegenüber die Regelbeispiele wegen ihrer Rechtsähnlichkeit mit Qualifikationen wie Tatbestände und löst ihre Rechtsfolge auch schon bei einem „Quasi-Versuch” aus oder zumindest dann, wenn eine umfassende Würdigung der Umstände der Tat dies zulässt.
12) Fehlvorstellungen über Verfahrensvorschriften im Zusammenhang mit der Verfolgbarkeit
einer Straftat wirken sich auf die Strafbarkeit nicht aus. Sowohl die irrige Annahme als auch die Unkenntnis sind unbeachtlich.
Besonderheiten gelten bei rauschbedingten Irrtümern.




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