Europäischer Haftbefehl

Das Ziel des Europäischen Haftbefehls besteht darin, eine zügige und einfachere Auslieferung von Tatverdächtigen und verurteilten Straftätern innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu gewährleisten. Er soll das bisherige, auf dein Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. 12. 1957 beruhende schwerfällige zweistufige Auslieferungsverfahren ablösen, das neben der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung eine u. a. auf außenpolitischen Ermessenserwägungen basierende Auslieferungsbewilligung erforderte. Die Idee des Europäischen Haftbefehls ist ein rein justizielles Verfahren mit direkter Kooperation der beteiligten Strafverfolgungsbehörden. Auf diese Weise wird das bereits im Schengener Durchführungsabkommen (SDU) angelegte und über eine bloße justizielle Zusammenarbeit hinausreichende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung vertieft. Die entscheidende Initiative für die Entwicklung eines Europäischen Haftbefehls ging vom Gipfeltreffen des Europäischen Rats in Tampere (15./16. 10. 1999) aus, der die Europäische Kommission um den Entwurf eines entsprechenden Modells ersuchte. Den anschließenden „Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten” vollzog der Rat der Justiz- und Innenminister mit seinem Rahmenbeschluss von Sevilla (13. 6. 2002) nach, der am 7. 8. 2002 in Kraft trat. Als ein parallel zur „Richtlinie” konzipiertes supranationales Regelungsinstrument bindet der Rahmenbeschluss (RB) die Mitgliedstaaten (gern. Art. 249 III EG-Vertrag) nur in der Zielsetzung, nicht in der Wahl und Form der Umsetzung.
Art. 1 I RB definiert den Europäischen Haftbefehl als eine gerichtliche Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der
Sicherung bezweckt”. Art. 8 RB benennt zahlreiche Formerfordernisse (Angaben zur Identität der gesuchten Person, rechtliche Würdigung der Straftat, Beschreibung der Tatumstände etc.), die durch ein beigefügtes Muster konkretisiert werden. Verfahrenstechnisch sehen Art. 10 IV, 9 II RB vor, dass die ausstellende Behörde den Haftbefehl entweder direkt an die zuständige Justizbehörde des Vollstreckungsstaats übermittelt oder — bei unbekanntem Aufenthaltsort der gesuchten Person — eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem veranlasst. In materieller Hinsicht ist das Festhalten am Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit (Art. 2 IV RB) charakteristisch. Eine Ausnahme gilt für 32 Straftatbestände, die im Katalog des Art. 2 II RB aufgeführt sind (Betrug, Brandstiftung, Erpressung, illegaler Drogenhandel, Menschenhandel, Terrorismus etc.). Art. 27 II RB betont den Grundsatz der Spezialität, der die Strafverfolgung des Ausstellungsstaates auf den in der Auslieferungsbewilligung gesteckten Rahmen begrenzt. Art. 3 und 4 RB regeln zahlreiche obligatorische und fakultative Ablehnungsgründe, z. B. mit Rücksicht auf das Verbot der Doppelbestrafung oder auf eine Verjährung der Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsstaates. Art. 5 RB gestattet es dem Vollstreckungsstaat, die Übergabe der gesuchten Person von der Abgabe bestimmter Garantien seitens des Ausstellungsstaates abhängig zu machen. Art. 1 III RB stellt den Europäischen Haftbefehl unter den Vorbehalt der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gern. Art. 6 EU-Vertrag. In der rechtspolitischen Diskussion wird der Rahmenbeschluss als unausgereifte „tagespolitische Maßnahme” kritisiert, die ohne ein gesamteuropäisches Straf- und Strafverfahrensrecht fragwürdig erscheine. Sie betreibe die Teileuropäisierung des Strafverfahrens zum Nachteil der Beschuldigtenrechte auf kleinstem gemeinsamen Nenner.
Der deutsche Gesetzgeber hat den Rahmenbeschluss mit dem Europäischen Haftbefehlsgesetz (EuHbG) vom 21. Juli 2004 umgesetzt und den Europäischen Haftbefehl in das „Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen” (IRG) integriert.
Das BVerfG hat im Jahr 2005 das EuHbG für nichtig erklärt (E 113, 273). Im Hinblick auf Art. 16 II GG hat das Gericht gerügt, dass der Gesetzgeber seinen Spielraum bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses undifferenziert und in nicht grundrechtsschonender Weise ausgefüllt habe. Der Gesetzgeber habe ignoriert, dass Art. 16 II GG der Auslieferung eines Deutschen prinzipiell entgegen stehe, wenn die verfahrensgegenständliche Tat einen maßgeblichen Inlandsbezug aufweise. Soweit das EuHbG den Rechtsweg gegen die Bewilligung einer Auslieferung ausschließe, liege zudem ein Verstoß gegen Art. 19 IV GG vor.
Unter Berücksichtigung dieser verfassungsgerichtlichen Vorgaben hat der Gesetzgeber am 20. Juli 2006 ein neues EuHbG erlassen, das den Vorbehalt eines maßgeblichen Inlandsbezuges ebenso integriert wie die Möglichkeit, Entscheidungen während des Bewilligungsverfahrens auf Ermessensfehler überprüfen zu lassen.
Das EuHbG ist auf vielfältige Kritik gestoßen. Sie richtet sich dagegen, dass das Gesetz an der missliebigen Zweiteilung des Auslieferungsverfahrens festhalte. Damit werde die mit dem Rahmenbeschluss angestrebte Verfahrensvereinfachung nicht erreicht. Zudem komme — wegen der begrenzten Überprüfbarkeit der auf zweiter Stufe stattfindenden Ermessenserwägungen
— eine effektive gerichtliche Nachprüfung nicht zustande. Darüber hinaus werden die nur schlagwortartige Umreißung der Katalogtatbestände im RB sowie die vagen Entscheidungshilfen zur Interpretation des „maßgeblichen Inlandsbezuges” als problematisch empfunden.

Auslieferung, Haftbefehl (5), Rechtshilfe (2 b), Vollstreckungshilfe (2 b).




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