Notstandsgesetze
Auch Staaten mit freiheitlicher Verfassung können durch äußere Ereignisse (Krieg,
Naturkatastrophen, Seuchen) oder innere Unruhen in einen Zustand geraten, in dem die normale Verfassung nicht mehr funktioniert. Zum Beispiel kann man es nicht zulassen, daß die Zufahrten zu einer Unglücksstelle von Schaulustigen blockiert werden, man kann Personen, die an ansteckenden Krankheiten leiden, nicht frei herumlaufen lassen, man kann nicht abwarten, bis das Parlament sich unter kriegsmäßigen Verhältnissen versammelt, um ein dringend notwendiges Gesetz zu verabschieden. Alle freiheitlichen Staaten haben daher Sonderregelungen für den Fall eines solchen Notstandes getroffen. Bei uns hat man damit lange gezögert, weil die
Erinnerungen an das Ende der
Weimarer Republik und an den Hitlerstaat noch zu frisch waren, die mit dem Begriff des Notstandes Zustände gerechtfertigt hatten, die sich mit der Verfassung nicht mehr vereinbaren ließen. Unter der großen Koalition aus CDU/ CSU und SPD in den Jahren 1967-69 war die Gelegenheit dann jedoch günstig, mit der erforderlichen verfassungsändernden Mehrheit im Grundgesetz Vorkehrungen für die genannten Katastrophenfälle zu treffen. Im Jahre 1969 wurden die Notstandsgesetze verabschiedet, die von der damals entstehenden außerparlamentarischen Opposition (Apo), vor allem von Studenten, scharf bekämpft wurden. Die Kernstücke dieser
Notstandsverfassung sind: a) Es werden die Begriffe des Span-nungs- und des
Verteidigungsfalles eingeführt. Während ersterer nicht näher definiert wird (in Art. 80a Abs. 1 GG wird lediglich gesagt, daß er vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit festzustellen sei), liegt letzterer nach Art. 115 a GG vor, wenn «das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht». Auch er ist mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages und mit
Zustimmung des Bundesrates festzustellen. Im
Verteidigungsfall geht die Befehlsgewalt über die
Streitkräfte vom Bundesverteidigungsminister auf den
Bundeskanzler über (Art. 115b GG). Dringende
Gesetzesvorlagen können in einem beschleunigten Verfahren beraten werden (Art. 115d GG). Kann der Bundestag nicht mehr zusammentreten, so tritt ein
Gemeinsamer Ausschuß, bestehend aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates (Art. 53a GG), an die Stelle von Bundestag und Bundesrat und übernimmt die gesamte Gesetzgebung (Art. 115e GG). Die
Bundesregierung kann den
Landesregierungen Anweisungen erteilen (Art. 115f GG). Umgekehrt können auch
Landesregierungen Aufgaben des Bundes übernehmen, wenn dieser nicht mehr selbst tätig werden kann (Art. 115i GG). Als Garantien bleiben erhalten: Die Stellung und Befugnisse des
Bundesverfassungsgerichts dürfen nicht angetastet werden (Art. 115g GG), der Bundestag kann Gesetze des Gemeinsamen Ausschusses jederzeit aufheben und mit
Zustimmung des Bundesrates den
Verteidigungsfall für beendet erklären (Art. 1151 GG). Im
Spannungsfall können die
Streitkräfte Aufgaben übernehmen, die sonst nur von der Polizei wahrgenommen werden können (zum Beispiel Objektschutz und
Verkehrsregelung, Art. 87 a Abs. 3 GG). Weiterhin wurde der Begriff des inneren Notstandes eingeführt (eine drohende Gefahr für den Bestand des Bundes, eines Landes oder der freiheitlich demokratischen
Grundordnung, insbesondere infolge von Unruhen «organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer»). In diesem Falle können Polizeikräfte des Bundes und aller Länder, notfalls auch die
Streitkräfte, im ganzen Bundesgebiet eingesetzt werden. Äußerstenfalls kann ihnen die
Bundesregierung direkt Befehle erteilen (Art. 87a Abs. 4, 91 GG). Auf Verlangen des Bundestages oder des Bundesrates sind diese Einsätze jedoch sofort zu beenden. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Einrichtung der Bundeswehr und des zivilen
Ersatzdienstes, die bis dahin für das GG nicht existierten, in das GG aufgenommen. Das
Grundrecht der
Berufsfreiheit wurde insofern eingeschränkt (Art. 12 Abs. 2 GG). Die
Wehrpflicht beziehungsweise
Ersatzdienstpflicht wurde im GG verankert (Art. 12a GG). Für den
Verteidigungsfall wurde darüber hinaus eine allgemeine
Arbeitspflicht (auch für Frauen) eingeführt, die sich jedoch nicht gegen
Arbeitskämpfe richten darf (Art. 9 Abs.3GG). Für Soldaten und Angehörige des zivilen
Ersatzdienstes wurden weitere
Grundrechte eingeschränkt (Art. 17a GG). Allgemein wurde das Recht auf
Freizügigkeit für Katastrophenfälle aller Art eingeschränkt (Art. 11 Abs. 2 GG). Während alle diese Maßnahmen als notwendig und rechtsstaatlich
vertretbar angesehen werden können, ist eine weitere in diesem Zusammenhang getroffene Regelung bis heute umstritten geblieben: die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses «zum Schütze der freiheitlich demokratischen Grundordnung» (Art. 10 Abs. 2 GG). Danach braucht dem Betroffenen auch
nachträglich nicht mitgeteilt zu werden, ob und warum er überwacht wurde. Auch ist hierfür keine gerichtliche Kontrolle vorgesehen, sondern nur eine parlamentarische Überwachung.
sollen in Krisen- oder Katastrophenfällen (z.B. Atombombenangriff) dem
Bürger Schutz gewähren und den Staatsapparat funktionsfähig erhalten. Da der
Bundesregierung erhebliche Machtmittel in die Hand gegeben werden sollen, mit deren Hilfe auch
Grundrechte eingeschränkt werden können, machen die N.
Verfassungsänderungen notwendig. Im Rahmen der N. sind die sog. Zivilschutzgesetze (
ziviler Bevölkerungsschutz) erlassen worden (Selbstschutzgesetz, Schutzbaugesetz, Zivilschutzkorps und Zivilschutzdienst). Dazu gehören auch die
Sicherstellungsgesetze: Das Wirtschafts-, das Verkehrs-, das Ernährungs- und das
Wassersicherstellungsgesetz. Ziel dieser Gesetze ist es, im
Verteidigungsfall Waren und
Leistungen auf allen Gebieten der Wirtschaft so zu lenken, dass der militärische und zivile Bedarf gedeckt werden kann. In Friedenszeiten sollen bereits vorsorgende Massnahmen getroffen werden. a.
Spannungsfall,
Ausnahmezustand. Vgl. auch
Gesetzgebungsnotstand,
öffentlicher Notstand,
polizeilicher Notstand.
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